9.1.22

Bericht aus Bulgarien (9)


„Der Bulgare hustet vom Tabak, nicht von COVID-19“
Aktuelles Graffito in den Straßen von Sofia

Neulich ist mir die Füllung aus einem Zahn gefallen, so dass ich auf der Suche nach einem Zahnarzt war. Ich suchte aber nicht direkt nach einem Zahnarzt, sondern nach jemandem, der einen Zahnarzt kennt, am besten natürlich einen guten. Dazu schaute ich mir als erstes die Zähne dieser Person selbst an. Und da ist es so, dass diese auf dem Dorf und im ländlichen Bereich allgemein schlechter, wenn überhaupt noch vorhanden sind. Insbesondere in meiner Region, der ärmsten im Nordwesten Bulgariens, wo vorzugsweise alte Menschen wohnen, die kaum noch Zähne und nur wenig Geld haben. Demzufolge gibt es hier keine guten Zahnärzte, kann es sie auch nicht geben.

So kam ich auf Sofia, wo Freunde von mir wohnen. Einer dieser Freunde ist der vielleicht beste Dudelsackspieler Bulgariens, den ich seit nunmehr knapp 30 Jahren kenne. Kennengelernt habe ich ihn, den Straßenmusiker, auf der Straße (wo sonst?), und zwar in Sofia vor dem größten Kaufhaus des Landes, dem „Zentralen Universalen Magazin“ (ZUM). Die Auslagen des Kaufhauses waren damals „Wende-bedingt“ leer. Der Dudelsackspieler hatte deswegen nicht nur viele Zuhörer, sondern auch deren volle Aufmerksamkeit, und so auch meine. Bis heute habe ich die Kassette mit seiner Musik, die ich mir damals von ihm, handschriftlich mit seiner Festnetznummer und seiner Adresse versehen, vorm ZUM gekauft habe.

Später habe ich den Dudelsackspieler mehrfach nach Berlin eingeladen, wo ich Konzerte für ihn organisiert habe. Die meiste Zeit hat er aber auch in der deutschen Hauptstadt auf der Straße gespielt. Und dort hat er letztens den Zahnarzt kennenglernt, bei dem ich gestern war: Ein junger, offener und sympathischer Mann, der sich in Sofia eine Zahnarzt-Praxis mit seiner Mutter teilt. In Berlin hat er meinen Dudelsackspieler mit Zigaretten und Kaffee versorgt, jetzt kümmert er sich in Sofia um meine Zähne. Da wir dort gestern in der Praxis auf den jungen Dentisten warten mussten, bekamen wir von seiner Sprechstundenhilfe eine Tasse Kaffee angeboten.

Damit auch dies nicht unerwähnt bleibt: Corona spielte bei meinem Zahnarztbesuch keine Rolle. Ich brauchte keinen Grünen Pass und auch keinen Test. Ich musste noch nicht einmal meinen Namen nennen, sondern wurde von meinem Dudelsackspieler als sein „Impresario“ vorgestellt – das genügte. Ein „Impresario“ ist übrigens ein „Konzertagent, der für einen Künstler die Verträge abschließt und die Geschäfte führt“, so steht es im Fremdwörterbuch. Und das stimmt, ich bin wirklich der „Impresario“ meines Dudelsackspielers, zumindest für Berlin. Hier in Sofia bin ich ab sofort und an erster Stelle Patient des Zahnarztes, den mein Dudelsackspieler in Berlin auf der Straße kennengelernt hat. Dass ich die Bekanntschaft mit dem jungen bulgarische Zahnarzt nicht bereits beim von mir organisierten Konzert in Berlin gemacht habe, liegt ganz einfach daran, dass das Konzert zu dem Zeitpunkt, als er meinen Freund den Dudelsackspieler auf der Straße kennengelernt hat, schon stattgefunden hatte.

Zuerst untersuchte der Zahnarzt und Fan meines Freundes des Dudelsackspielers alle meine Zähne, was etwa 20 Minuten gedauert hat. Danach kümmerte er sich um den Zahn, aus dem die Füllung herausgefallen war, und versorgte ihn mit einer neuen. Das war aus verschiedenen Gründen, die ich nicht ausführen möchte, nicht ganz einfach. Auch weil der Zahnarzt sehr genau arbeitete, dauerte es seine Zeit, und zwar ziemlich genau zwei Stunden. Mein Freund der Dudelsackspieler musste die ganze Zeit warten, was ihm nicht leicht fiel, auch weil er selbst ein Problem mit einem Zahn hatte. Zum Glück hatte er seinen Dudelsack mit in die Praxis gebracht, so dass meine Behandlung mit seiner musikalischen Begleitung stattfand, und sie so zu einem einzigartigen Ereignis machte, sowohl für den jungen Zahnarzt, als auch für mich, den „Impresario“.

Zum Schluss hat der Zahnarzt die Rechnung gemacht. Die gründliche Untersuchung am Anfang kostete 20 Lewa (10 Euro) und die Versorgung des Zahns samt Material, die alleine zwei Stunden in Anspruch nach, schlug mit 100 Lewa (50 Euro) zu Buche. Die Musik von unserem gemeinsamen Freund dem Dudelsackspieler gab es umsonst. Ich habe auch gleich einen neuen Termin für nächste Woche gemacht. Da bin ich wieder in Sofia, weil da eine große Demonstration gegen das „Grüne Zertifikat“, also den Grünen Pass, in der bulgarischen Hauptstadt stattfindet, zu der Menschen aus dem ganzen Land anreisen werden, und über die ich zu berichten beabsichtige. Außerdem gibt es für mich eine Zahnreinigung bei dem jungen bulgarischen Zahnarzt, der ausnahmsweise nicht im Ausland, sondern in seinem Heimatland praktiziert, was ich unterstütze.

Möglicherweise findet die Behandlung wieder beim Klang des Dudelsacks statt, von dem Nietzsche meinte, dass nur wenig zum Glück gehört: „Der Ton des Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ – Nietzsche kann man nicht mehr unterstützen, den Zahnarzt unterstütze ich schon, und das Geschäft des Dudelsackspielers läuft auch trotz Corona irgendwie. Man kann aber mich unterstützen, meinen Besuch beim Zahnarzt und meinen geplanten Bericht über die große Demonstration diesen Mittwoch in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Dafür habe ich oben rechts auf dieser Seite den Link „Spende“ eingerichtet. Wer kein Konto bei PayPal hat und mir trotzdem etwas zukommen lassen möchte, dem teile ich auf Nachfrage gerne meine Bankverbindung mit.

Foto&Text TaxiBerlin

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