3.10.21

Chestit praznik! Честит празник!


Als gäbe es kein morgen

Regelmäßig rede ich mit Freunden in Deutschland, wo heute Feiertag ist. Die Menschen in der Heimat scheinen langsam aber sicher verrückt zu werden, regelrecht durchzudrehen, den gesunden Menschenverstand zu verlieren. Beispielsweise ist es mir gelungen, obwohl ich seit über einem Jahr kein Taxi mehr fahre, eine Kolumne in den aktuellen „Taxi-Times“, DEM Magazin für Taxifahrer, unterzubringen und dafür sogar bezahlt zu werden, dessen Titel „Unwissenheit ist Stärke“ eine Parole des „Ministeriums für Wahrheit“ aus Orwells „1984“ ist, ohne dass dies jemand bemerkt hätte. Und, ein anderes Beispiel, was musste ich da gestern wieder erfahren. RT/DE, also Russia Today für Deutschland, soll dort abgeschaltet sein. Wenn das der Bulgare wüsste, der dem Russen einst das Alphabet geliefert hat, damit dieser überhaupt schreiben kann. Aber keine Sorge, ich sage dem Bulgaren nichts davon. Dazu muss man wissen, dass der Bulgare große Stücke auf den Deutschen hält, auch wenn dieser ihm immer äußerst, um nicht zu sagen extrem ängstlich und nur allzu sehr mit Schuld beladen vorkommt. Aus Respekt vor dem Deutschen wurde ich Anfangs nicht mit meinem Vornamen, sondern mit „Deutsch“ angesprochen. Ich habe dann immer gesagt, dass „Deutsch“ nicht mein Name ist. Seitdem werde ich „Rumen, der Deutsche“ genannt. Jetzt habe ich das Problem, dass ich mich gar nicht diskriminiert fühle deswegen. Ich denke, ich sollte das, aber ich fühle es einfach nicht.

Was ich auch nicht (mehr) fühle, ist Angst. Die hatte ich in Deutschland. Die Deutschen, die für ihre Rechthaberei sogar in Bulgarien bekannt sind, haben mir mit ihrem aktuellen Fanatismus Angst gemacht. Ich wollte es lange nicht glauben, aber die Deutschen sind wirklich alles Nazis. Gut, vielleicht nicht alle, aber doch so einige. Hier in Bulgarien gibt es praktisch keine Nazis. Hier gibt es vor allem normale Leute, die Fünfe auch mal gerade sein lassen. Wenn sie Zeit haben, rufen sie beim Radio an. Viele von ihnen sind dann nicht mehr ganz nüchtern, aber trotzdem dürfen sie ihre Meinung sagen. Der Moderator moderiert nur, das ist sein Job. Er sagt nicht, dass der Anrufer die falsche Haltung oder die verkehrte Meinung habe. Er fragt nicht einmal, ob der Anrufer getrunken hat. Das ist offensichtlich, das hört man. Zum Schluss sagen die Anrufer dann immer, das wichtigste sei, dass man zusammen ist: Familie, Freunde, Bulgaren. In Deutschland ein Unding, vor allem letzteres. Wahrscheinlich auch heute, am Tag der Deutschen. Wenn man nicht beim Radio anrufen kann, werden dort Klassik oder Oldies gespielt, also richtig gute Musik. Auf keinen Fall die Hits von heute, die morgen schon keiner mehr kennt. Auch das (leider) unvorstellbar im heutigen Quoten-Deutschland.

Dort soll es jetzt eine Initiative mit dem Namen „Alles auf den Tisch“ geben. In Bulgarien liegt bereits alles auf dem Tisch, zumindest in den Gesprächen der Menschen. Niemand behauptet, die richtige Meinung zu haben oder wirft dem anderen die falsche Haltung vor. Meine Haltung zu dem Verbot von RT/DE in Deutschland ist übrigens Voltaire: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, würde aber alles dafür geben, dass Sie sie äußern dürfen!“, oder so ähnlich. Keine Ahnung, woran das jetzt beim Bulgaren liegt, dass ihm Fanatismus und Rechthaberei fremd sind, es hat zumindest Tradition. Die Bulgaren waren schon immer unzuverlässige Vertragspartner, insbesondere in Kriegszeiten, und wir befinden uns ja im Krieg. Möglicherweise liegt es daran, dass der Bulgare einfach anderes, wichtigeres zu tun hat. Aktuell wird in Bulgarien Holz gemacht, denn der Winter steht vor der Tür. Man fährt in die Wälder und schlägt Holz, einfach so, ohne Erlaubnis und als gäbe es kein morgen. Genau genommen ist es eine Holz-Mafia, bei der alle mitverdienen, außer ich natürlich. Ich mache auch Holz, aber mein eigenes. Ich fälle meine eigenen Bäume, denn ich habe zu viele. In Deutschland müsste ich mir das wahrscheinlich vorher genehmigen lassen, und vielleicht ist das auch hier so, ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass die Leute hier mit irgendetwas heizen müssen. Dass es nun unbedingt hartes Buchenholz sein muss, das verheizt wird, während man mit weichem Kiefernholz baut, wenn man es noch zu kaufen bekommt, ist natürlich Irrsinn. Noch größerer Irrsinn ist, so denke ich, dass Schafe jetzt nicht mehr auf die Weide gebracht werden, wie das noch vor ein paar Jahren der Fall war, sondern in Schaf-KZs mit 1.000 Tieren und mehr gehalten werden, die keine Sonne und auch keine Weide mehr sehen, sondern auf engstem Raum stehen müssen und mit Pellets gefüttert werden. Da ist der Nazi beim Bulgaren vergraben, beim Umgang mit seinen Tieren. Und da fühle ich, jetzt keine Angst, sondern den unbedingten Wunsch einzuschreiten. Das sagt mir zumindest mein gesunder Menschenverstand, dass ich das sollte. Wobei man dazu sagen muss, dass der Mensch das perfekteste Haustier ist, weswegen man auch vom gesunden Tierverstand reden könnte. Ich träume jedenfalls regelmäßig davon, die Tiere zu befreien, damit wir auch mit ihnen zusammen sein können.

Foto&Text TaxiBerlin

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