23.3.23

Bericht aus Bulgarien (544) - "Maroder Charme nochmal"

Nuss-Ecke Haus-Ecke (links)

Gestern habe ich mich mit meinem englischen Freund Jerry über die Frage unterhalten, ob und warum man in Bulgarien gerne immer alles positiver darstellt, als es ist, insbesondere Ausländern gegenüber. Jerry stimmte mit mir überein, dass es dieses Phänomen gibt, und dass sicherlich auch Scham eine Rolle spielt. Dann meinte er, und das ist der Unterschied, dass wir auch wegen diesem Verfall hier sind, den ich gestern als maroden Charme hoch Zwei bezeichnet habe. Bulgaren mögen in aller Regel keinen maroden Charme, was verständlich ist, denn sie sind ständig von marodem Charme hoch Zwei umgeben, insbesondere im Nordwesten, der ärmsten Region nicht nur Bulgariens, sondern der gesamten EU. Und man sucht bekanntlich immer das, was man nicht hat. Auch deswegen lebt jeder dritte Bulgare im Ausland, von den 20- bis 45-jährigen sogar jeder zweite. Bulgaren darf man mit "marodem Charme" und "beklagenswert" als Zustandsbeschreibung nicht kommen. Höchstens wenn man nicht will, dass sie kommen. Warum ist für Jerry und mich und viele andere aus dem Westen maroder Charme und Verfall so anziehend? Ich denke, weil es das ist, was es im Westen (noch) nicht gibt, er aber auf dem Weg dahin ist. Es ist, wenn man so will, eine Art von Dekadenz. Uns geht's zu gut. Vielleicht erklärt es auch ein wenig das, was Freud "Todestrieb" nannte. Ein Trieb ist es nicht, aber das Leben ist nunmal endlich. Nur, wenn der Tod aus dem Alltag verschwunden ist wie im Westen, sucht man nach ihm, auch unbewusst. Unter anderem deswegen unterstützt manch einer wohl auch Krieg gegen ein Land, in dem er nie war und dessen Bewohner er nicht kennt. Auch auf die Gefahr hin, selbst zum Kriegsteilnehmer zu werden. Dann lieber maroden Charme gut finden.

Foto&Text TaxiBerlin

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