4.9.22

Bericht aus Bulgarien (276)

Ein Plakat auf der Demonstration am 19. März in Sofia

In Prag sollen 70.000 Menschen auf der Straße gewesen sein gestern. Ich lese nur noch die Überschriften und die Kommentare. Wenn sie 70.000 schreiben, gehe ich davon aus, dass es mindestens 100.000 gewesen waren, wahrscheinlich eher 200.000. So viele Menschen sind in Sofia bisher nicht zusammengekommen. Wie auch, wenn jeder dritte Bulgare im Ausland lebt. Obwohl, nicht wenige sind in den letzten beiden Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt, manche sogar auf ihre Dörfer. Einige von ihnen habe ich auf den zahlreichen Protesten in der bulgarischen Hauptstadt kennengelernt, der ein oder andere der Zurückgekehrten hat sogar zu den Protestierenden gesprochen. Eine Einladung dazu brauchte keiner von ihnen. Dass das alles nützliche Idioten wären, die da auf die Straße gehen, davon habe ich hier noch nie gehört. Aber da ist man selbst beim ehemaligen Nachrichtenmagazin aus Hamburg gerade dabei zurückzurudern, zumindest gestern. Morgen in Leipzig sieht das natürlich schon wieder anders aus. Wie gesagt, ich lese nur noch die Überschriften und die Kommentare, denken kann ich noch selber. Ich brauche die Zeit auch für meine Bücher, die ich mir selbst aus Berlin nach Bulgarien geschickt habe. Gerade lese ich "Im Zeitalter der Sucht" von Anne Wilson Schaef, ihr indianischer Name ist Weán Wamblischka Wanka. Die bekannte US-amerikanische Psychotherapeutin ging schon vor über 30 Jahren davon aus, dass wir in einem Suchtsystem leben, was aber nicht heißt, dass alle an der Nadel hängen, obwohl in diesem Punkt das Buch unter Umständen schon überholt ist. Die Einleitung beginnt jedenfalls mit diesem Satz: "Unsere Gesellschaft zerfällt mit beängstigender Geschwindigkeit." Im Kapitel "Angst" schreibt die Autorin, sie ist Mitbegründerin des "Woman's Institute of Alternative Psychotherapy", dass wir uns unsere Krisen selber schaffen, und zwar "als Garantie dafür, dass doch noch eine geringe Überlebenschance besteht." So sehe ich auch den Krieg in der Ukraine zwischen Russland und den USA, für den die USA in hohem Maße mitverantwortlich ist und den ebenfalls die USA als größter Kriegsprofiteur auf keinen Fall beenden will. Deutschland, also auch du und ich, wir sind dafür nur die nützlichen Idioten.

Foto&Text TaxiBerlin

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