14.12.21

Warum ich nicht mehr zu den Meetings der Anonymen Alkoholiker gehe

Außer eine höhere Macht natürlich


Im Oktober vergangenen Jahres habe ich in meiner neunundvierzigsten und letzten Radiosendung von „Hier spricht TaxiBerlin“ über meine Alkoholabhängigkeit gesprochen. Ich erwähnte dort, dass ich kurz zuvor zu meinem ersten Meeting bei den Anonymen Alkoholiker (AA) in Berlin war, und dass mir dieses Meeting sehr gut getan hat. Bis zu meiner Abreise nach Bulgarien Ende Mai habe ich in Berlin regelmäßig zwei AA-Meetings in der Woche besucht. Die Meetings sind zu einem festen Bestandteil meines Wochenplans geworden. Am Ende bin ich so selbstverständlich zu dem Meetings gegangen, als hätte ich dies schon mein ganzes Leben lang getan.

Die beiden Meetings, zu denen ich regelmäßig gegangen bin, waren Monolog-Meetings. Das heißt, jeder spricht nur von sich und es gibt keine direkten Reaktionen auf das Gesagte von anderen. Nicht alle mögen diese Art von Meetings, für mich waren sie genau das richtige. Ich hatte auch keinen so genannten Sponsor wie die meisten anderen. Ein Sponsor ist jemand, der schon länger trocken ist, und der einen auf seinem Weg der Abstinenz begleitet. Für mich konnte ein jeder auf den AA-Meetings ein Sponsor sein, weil ich von jedem etwas lernen konnte und auch gelernt habe, wofür ich dankbar bin.

Bereits im Oktober letzten Jahres war es üblich, dass jeder Teilnehmer der AA-Meetings seine Kontaktdaten hinterlässt. Dazu muss man wissen, dass AA keine eigenen Räumlichkeiten hat. Die Auflage, seine Kontaktdaten zu hinterlegen, kam also nicht von AA selbst. Trotzdem bedeutete es schon damals, dass damit gegen ein fundamentales Prinzip von AA verstoßen wird – die Anonymität. Seit ich in Bulgarien bin, hatte ich wöchentliche Telefon-Meetings mit einem AA-Freund in Berlin. Diese waren anonym, zumindest so weit ich das beurteilen kann. Neulich unterhielt ich mich mit einem anderen AA-Freund, der mir von AA-Meetings in Berlin berichtete, wo man neuerdings nicht nur seine Kontaktdaten hinterlassen, sondern auch seinen Impfstatus angeben soll.

Hier war für mich eine rote Linie überschritten. Zur selben Zeit begann man auch in Deutschland über eine allgemeine Impfpflicht nachzudenken. Ich musste eine Entscheidung treffen, oder ein Zeichen setzen, wie man heute sagt. Ich muss dazu sagen, dass ich, als ich noch in Berlin war, auch regelmäßig Treffen von Heilpraktiker besucht habe. Immerhin bin ich gelernter Krankenpfleger. Diese Heilpraktiker-Treffen waren anonym gewesen – im Gegensatz zu den AA-Meetings. Es geht also – wenn man will.

Ich habe mich entschlossen, meine AA-Meetings einstweilen auszusetzen. Das ist jetzt zwei Wochen her. Seitdem mache ich keine Telefon-Meetings mehr. Wäre ich in Gefahr, wieder mit dem Alkohol anzufangen, könnte ich einen AA-Freund anrufen und würde dies auch tun. Ich habe eine Handvoll Telefonnummern von Leuten da, die zum Teil über 30 Jahre trocken sind, die ich persönlich kenne, die ich schätze und denen ich vertraue.

Die Preisgabe eines fundamentalen Prinzips von AA, die Anonymität, ist nur ein Grund, dass ich derzeit keine AA-Meetings mehr besuche. Damit kehre ich AA nicht den Rücken, im Gegenteil. AA kehrt sich selbst den Rücken. Meetings, die nicht anonym sind, sind keine Meetings der Anonymen Alkoholiker. Das eine schließt das andere aus. Was sich wie eine Kleinigkeit anhört, ist keine Kleinigkeit. Es ist auch kein Korinthen kacken.

Es gibt aber noch einen wichtigeren Grund für mich, keine AA-Meetings mehr zu besuchen. Ein Prinzip von AA ist, dass die Organisation nicht zu politischen Fragen Stellung nimmt. Ich finde das gut, nur führt dies aktuell dazu, dass in den Meetings nicht über Corona gesprochen werden darf, weil das politisch ist. Selbst da würde ich fast noch mitgehen, wenn der Hinweis darauf, dass das Thema Corona politisch wäre, nicht dazu führen würde, dass kaum noch jemand über seine Corona-Angst spricht.

Hier verwandelt sich ein gut gemeintes Prinzip in sein Gegenteil, wird zu einem Grund, wieder mit dem Trinken anzufangen. Genau das, was durch die Meetings verhindert werden soll. In der Praxis ist es so, dass viele AA-Freunde schon gar nicht mehr in die Meetings gehen. Einige habe ich nie kennengelernt. Auch deswegen kenne ich die genauen Gründe jedes Einzelnen nicht. Die Erklärung, dass es für viele unerträglich ist, nicht über dieses eine Thema sprechen zu dürfen, ist für mich aber naheliegend.

Bei meinem letzten AA-Meeting vor zwei Wochen sagte der AA-Freund, den ich schätze, am anderen Ende der Leitung in Berlin, als wir über dieses Thema sprachen, dass er keine Angst habe und in den letzten eineinhalb Jahren auch nicht gehabt hätte. Und vielleicht stimmt das für ihn auch. Mit meiner Lebenserfahrung deckt es sich allerdings nicht. Ich kenne niemanden persönlich, der das sonst so gesagt hat oder so sagen würde. Es ist, so denke ich, auch höchst unwahrscheinlich, nachdem man uns nun schon seit eineinhalb Jahren täglich aufs Neue in Angst und Panik versetzt. Umgedreht wird eher ein Schuh draus: Weil ich das Thema nicht ansprechen darf, darf ich auch keine Angst haben. Ich habe Menschen bei den Meetings ihre Fassade der angeblichen Angstlosigkeit verlieren und hysterisch werden sehen, als es doch mal um das Thema Corona ging.

Ein wichtiges Prinzip in der Krankenpflege ist, dem Patienten Sicherheit zu geben. Ihm Angst zu machen, und das permanent, ist das genaue Gegenteil davon. Wäre ich, als es mit Corona losging, nicht schon eineinhalb Jahre trocken gewesen, ich hätte mit Sicherheit wieder mit dem Alkohol angefangen, um mir meine Angst wegzutrinken. Dies ist mir zum Glück bisher erspart geblieben, wofür ich jedem Einzelnen dankbar bin, der mich auf meinem Weg begleitet hat, dem ich zuhören und von dem lernen durfte. Viel habe ich auch von gescheiterten, wieder rückfällig gewordenen gelernt. Auch deswegen kann mir vorstellen, dass nicht wenige AA-Freunde wegen Corona wieder mit dem Trinken angefangen haben. Dass sie nicht über das Thema Corona sprechen dürfen auf den Meetings, macht es nicht gerade leichter, wieder damit aufzuhören.

Meiner Meinung nach kann man die Angst nicht von Corona trennen. Wenn ich über meine Angst spreche, komme ich automatisch auf das Thema Corona. Das Thema ist bei AA aber tabu und damit praktisch auch die Angst. Ich vermute, mit der Angst vor der Impfung verhält es sich ganz genauso. Wenn ich darüber hinaus von AA-Freunden gesagt bekomme, sie hätten keine Angst, fühle ich mich mit meiner Angst nicht ernst genommen und spreche auch nicht über sie. Das ist meine Erfahrung mit den AA-Meetings, die ich besucht habe, und das ist der eigentliche Grund, warum ich keine AA-Meetings mehr besuche. Hinzu kommt, dass ich damit groß geworden bin, dass im Leben alles immer auch politisch ist, beispielsweise auch mit dem Trinken aufzuhören.

Foto&Text TaxiBerlin

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