22.9.21

Die Wahl, die wir haben

Grafito in Sofia

Jetzt kommt es darauf an, auf jeden einzelnen, jetzt entscheiden sich die Dinge. Aber nicht durch eine Wahl, denn eine Wahl haben wir dort nicht. Die Dinge werden, wie alle wichtigen Dinge, auch diesmal auf der Straße entschieden. Da, wo ich ein halbes Leben zu hause war und immer noch bin, wenn auch nicht mehr die Straßen Berlins, und auch nicht die von San Francisco, sondern die in den Schluchten des Balkans. Und wo ich die für mich wichtigsten Menschen kennengelernt habe und bis heute kennenlerne. 

Neulich traf ich auf der Straße in Sofia ein junges bulgarisches Paar, das überlegt sich nach Deutschland zu evakuieren. Um genau zu sein sprachen sie mich an dem einzigen verbliebenen Buchstand von Sofias ehemals besten Buchbasar auf dem „Slawejkow“ an, den man nach der Sanierung des Platzes einfach nicht wieder aufgemacht hat, in einem kleinen Park hinter dem ehemaligen Hotel „Balkan“, jetzt „Sheraton“, einem Treffpunkt von Obdachlosen, weil ich dort die wenigen vorhandenen Bücher auf Deutsch aus den zwar zahlreich aufgestellten, allerdings verstauben und ungeordneten Kisten für mich herausgesucht hatte. Das Paar hat diesen aktuellen Text ins Bulgarische übersetzt. Deswegen weiß ich von ihm und auch davon, hier weiß auf schwarz:

2.6.3. Messung der Todeszahlen

Eine der größten Wunderlichkeiten der gesamten Corona-Situation bestand und besteht darin, dass die Zählungen von Toten nicht zwischen an und mit Covid-19 Verstorbenen unterscheiden. Während bisher galt, dass diejenige Krankheit, die (auch bei vorliegender Multimorbidität) am ehesten als Todesursache anzusehen war, in der Todesurkunde als Todesursache angegeben wurde – und im Zweifelsfall diejenige, deretwegen eine Person ins Krankenhaus eingeliefert wurde –, ging im Falle von Covid-19 ein Land nach dem anderen dazu über, bei all jenen Verstorbenen Covid-19 als Todesursache anzugeben, „die bis zu vier Wochen vor Todeszeitpunkt positiv getestet worden sind, auch wenn eine Covid-19-Erkrankung nicht ursächlich für den Tod gewesen war“.

Die Straße ist wahrlich meine Universität. Sie hat mich auch gelehrt, dass, wenn Wahlen was ändern würden, sie verboten wären.

Jemand in Deutschland, der sich wohlinformiert wähnt und dem ich den Text, von dem ich von dem Paar weiß, vor einigen Tagen geschickt hatte, hat mir nun geantwortet, dass ihm zum Lesen „schlicht“ die Zeit fehlen würde. Ein anderer, ebenfalls in Deutschland beheimatet, der sich die Zeit zum Lesen von aktuellen Texten nimmt, hat Einladungen zu offiziellen Veranstaltungen, auf denen die „3 G Regeln“ galten, mit den Worten beantwortet: „Haben Sie vielen Dank für die diskriminierende Einladung, da ich aber die Einlassbestimmungen nicht erfülle, muss ich leider absagen.“

Sicherlich, das sind nur zwei Beispiele, aber das ist praktisch die Wahl, die wir haben. Oder eben auf die Straße gehen, das geht auch.

Foto&Text TaxiBerlin

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