25.12.22

Bericht aus Bulgarien (372) - "Ein offenes Haus"

Ich bin wahrlich in einem offenen Haus geworden, was auch an meinem bulgarischen Vater lag. Hier tanzt er, der für einen Bulgaren mit knapp zwei Meter ungewöhnlich groß war, zwar mit dem Rücken zu meiner West-Berliner Oma mütterlicherseits, der er aber in Sachen Lust und Lebensfreude zugeneigt war. Wäre da nicht der Alkohol gewesen, der ihn zunehmend und irreversibel veränderte. Die Aufnahme ist anlässlich der Jugendweihe meines älteren Bruders entstanden. Wie man sieht, steht nicht nur unser Haus, sondern stehen auch die Garagentore, es gab ihrer zwei, weit offen. Knapp zehn Jahre zuvor hatte mein Vater stationär erfolgreich das Morphium entzogen, das er sich selbst gespritzt und zu dem er als Arzt Zugang hatte. Danach durfte er keines mehr verschreiben, kam auch selbst nicht mehr an Morphium heran. Die Summe aller Süchte ist immer gleich, habe ich von den Anonymen Alkoholiker gelernt. Bei meinem Vater verlagerte sich die Sucht auf das Nikotin und den Alkohol - vor allem auf den Alkohol. 1980, als obiges Foto gemacht wurde, war das Zeitfenster noch offen, das mein Vater auch mit dem Alkohol aufhört. Er hat es nicht genutzt. Nachdem man ihm das Morphium genommen hatte, war der Alkohol das einzige, was ihm noch blieb. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er es so sah, auch wenn er es nicht aussprach. Bald darauf folgte die Scheidung meiner Eltern und nur wenige Jahre später der frühe Tod meines Vaters mit gerade mal 60. Der Alkoholismus ist die "Krankheit des Vergessens", beispielsweise auch, dass sie garantiert tödlich ist, wenn man nicht vorher mit dem Trinken aufhört, nach Möglichkeit vollständig. Nachdem er viele Jahre nicht in seiner Heimat gewesen war, reiste er Anfang der Neunziger nach Bulgarien, wo er sich nach einem Haus umsehen wollte. Dazu kam es nicht mehr, denn er verstarb innerhalb nur weniger Tage. Beigesetzt ist er in dem kleinen Dorf im Nordwesten, der ärmsten Region des Landes, aus dem er einst kam, und zwar auf der Grabstätte seines Vaters, der viele Jahre zuvor bei einem Zugunglück ums Leben gekommen war, und den ich nie kennengelernt habe. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich meinen Vater jemals richtig kennengelernt habe. Mit den Jahren ist mir mein Vater fremd geworden, erinnerte ich mich vor allem daran, dass er zunehmend abwesend und immer öfter betrunken war. Je länger ich obiges Bild betrachte, desto mehr Zweifel kommen mir, ändert sich mein Blick auf meinen Vater. Nein, denke ich nun immer mehr, ich habe ihn schon kennengelernt. Nur neige ich dazu, die schönen, verrückten, bulgarischen Seiten auszublenden, zu vergessen. Jedenfalls stelle ich sie immer öfter auch bei mir fest. Und dafür bin ich auch Bulgarien, und dass ich jetzt hier sein darf, sehr dankbar.

Foto&Text TaxiBerlin

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