2.10.22

Bericht aus Bulgarien (324) - "Das redundante Ich"

Ne glasuvam - (Ich) wähle nicht (früher)

Redundant bedeutet, dass etwas doppelt oder mehrfach vorhanden ist. Der Begriff leitet sich von dem lateinischen Wort redundare ab (re = „zurück“ und unda = „Welle“) und steht im übertragenen Sinne für „überreichlich“, „wiederholt“ oder „überzählig“. In der bulgarischen Sprache betrifft die Redundanz regelmäßig das Personalpronomen, das man demzufolge einfach weglässt, um sich nicht zu wiederholen, obwohl man sich eigentlich gar nicht wiederholt, denn welche Person gemeint ist, ergibt sich nur aus dem Verb. Folgendes, aktuelles Beispiel soll dies veranschaulichen: Ne glasuvam (не гласувам) heißt genau genommen nur "wähle nicht", meint aber "ich wähle nicht" - das "ich" wird einfach weggelassen. Weitere Beispiele wären: du wählst nicht =  не гласуваш (ne glasuvash) und: wir wählen nicht = не гласуваме (ne glasuvame). Dass im Bulgarischen redundant sein soll und praktisch auch ist (im Deutschen ist es das nicht, ich kann nicht sagen "wähle nicht" anstelle von "ich wähle nicht"), wer wählen geht, ist merkwürdig und schreit förmlich nach einer Erklärung, die über das rein sprachliche hinausgeht. Eine Möglichkeit ist, dass die einzelne Person, um die es geht, einfach nicht wichtig ist, oder mit anderen Worten: die Person ist nichts wert. Angesichts des Lebens hier, von dem nicht wenige Bulgaren meinen, es sei keine fünf Stotinki (2,5 Cent) wert, erscheint dies sogar logisch. Man sollte allerdings nicht den Fehler machen, der im Westen gerne gemacht wird, zu denken, dass das, was nichts wert ist, automatisch dumm ist. Das ist auch nicht besonders intelligent, sondern einfach nur materialistisch gedacht. Meine Erfahrung hier in Bulgarien jedenfalls ist, dass es möglicherweise einfach nur "dumm gestellt"* ist, um eine schlimme Zeit zu überbrücken, so wie die Bulgaren die Zeit unter türkischer Herrschaft überlebt haben, indem sie aus Ja Nein und aus Nein Ja gemacht haben. Ob das stimmt, und ob es bei der heute stattfindenden vierten Wahl in eineinhalb Jahren erneut zutrifft, indem nochmals weniger als bei der letzten Wahl wählen gehen, da waren es bereits nur 40 Prozent gewesen, wird man sehen. Ich rechne fest mit einer Wahlbeteiligung unter 40 Prozent und denke deswegen, dass es an der Zeit ist, die Kompetenz und auch die Legitimation der sich zur Wahl stellenden ernsthaft in Frage zu stellen, aber vor allem zu fragen: Cui bono? - Wem zum Nutzen?

* Bei "dumm stellen" muss ich an folgendes Sprichwort denken: "Der aus dem Osten ist schlau und stellt sich dumm, bei dem aus dem Westen ist es anders rum."

Ne glasuvam - (Ich) wähle nicht (heute)

Fotos&Text TaxiBerlin

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