4.8.21

Der ehrliche Makler von Bulgaristan

Greif zu, bevor es jemand anders tut!

Genau in dem Moment, als vor 20 Jahren in New York die Twin Towers einstürzten, bin ich in Berlin vom Fahrrad gestürzt. Ein Auto hatte mich in Kreuzberg vom Rad geholt, ich war drei Monate aus dem Verkehr gezogen und konnte also auch kein Geld verdienen. Da ich bei dem Unfall ohne Schuld war, bekam ich immerhin Schmerzensgeld. Von diesem Geld, Schmerzen haben manchmal auch was Gutes, habe ich mir meine Hütte in den Schluchten des Balkans gekauft. Hütte ist dabei die absolut zutreffende Bezeichnung für das, was seither die Erweiterung meiner Berliner Bohemen Bude ist.

Heute würde für eine solche Hütte in den Schluchten des Balkans ein Fahrradunfall in Berlin nicht mehr reichen. Das liegt daran, dass seither so einige eine neue Bleibe in Bulgarien gesucht haben, vor allem Engländer, aber auch Amerikaner und Deutsche schauen sich hier um, und mit jedem Tag werden es mehr. Denn seit einiger Zeit dürfen auch Ausländer in Bulgarien Immobilien besitzen. Das war vor 20 Jahren noch anders.

Die Nachfrage nach Bohemen Buden in den Schluchten des Balkans hat also enorm zugenommen, das Angebot ist aber eher kleiner geworden. Und das, obwohl es jetzt mehr leerstehende Hütten gibt als damals, denn immer mehr Bulgaren verlassen ihre angestammte Heimat und suchen im Ausland nach Arbeit und Auskommen. Man spricht in dem Zusammenhang in Bulgaristan, wo es für die wenigen Verbliebenen immer mehr ums Überleben als um Leben geht, auch nicht von Emigration sondern von Evakuierung.

Waren es früher nur einzelne Häuser, die leer standen, so sind es heute ganze Dörfer. Auch wenn die Zahl derjenigen, denen Berlin zunehmend auf die Nerven geht, enorm zugenommen hat, dürfte immer noch für jeden von ihnen etwas dabei sein in Bulgarien. Nur, und das ist der Haken, sie stehen nicht zum Verkauf. Das liegt daran, dass der Bulgare an seiner Scholle hängt. Für wen Berlin nur eine „Base“ ist, der kann das natürlich nicht nachvollziehen, aber die bulgarische Seele tickt anders.

Bevor der Bulgare sein Stückchen Erde, auf dem vielleicht noch die Hütte steht, in der er einst geboren wurde, für ’n Appel und ’n Ei verkauft, behält er sie lieber, auch wenn sie verfällt, weil er nichts an ihr machen lässt. So ist die Situation vielerorts in Bulgarien, wo es aber für jedes Ding, und so auch für dieses, eine Lösung gibt. Die Lösung hier lautet: Wenn du Problem hast, das du nicht lösen kannst mit Geld, kannst du nur lösen mit viel Geld.

Dazu muss man wissen, dass viel Geld in Bulgarien nicht automatisch viel Geld in Deutschland bedeutet. Wenn ich, um nur ein Beispiel zu machen, für meine Hütte mit einem Fahrradunfall bezahlt habe, so sind heute, damit der Bulgare sich von seiner Scholle trennt, drei oder vier Fahrradunfälle nötig. Aber hey, die meisten Menschen verdienen ihr Geld nicht mit Fahrradunfällen. Das war jetzt nur ein Beispiel!

Ich schreibe diesen Beitrag auch im Namen meines Bürgermeisters, mit dem zusammen ich als letzter verbliebener Einwohner unser Dorf bewohne. Mein Bürgermeister weiß nicht nur, welche Hütte von wem verlassen wurde und wo er ihn findet, sondern kennt auch die Höhe des Schmerzensgeldes (früher sagte man Abstand dazu), für das der (noch) Eigentümer bereit ist, sich von seiner heimischen Scholle zu trennen. Darüber hinaus meldet mein Bürgermeister dich gerne als neuen Einwohner in unserem Dorf an. Das hat er für mich auch gemacht. Die Anmeldung kostet dich auch nichts, nur Nerven.

Dass das Schmerzensgeld, also der Abstand, für den der Bulgare bereit ist, sich von seiner Bohemen Bude auf dem Balkan zu trennen, heute höher ist als damals, als in New York die Twin Towers eingestürzt sind, und ich in Berlin vom Fahrrad gefallen bin, ist der Lauf der Dinge. Dafür kann ich nichts, auch wenn ich als ehrlicher Balkan-Makler jetzt davon profitiere. Dafür kannst auch du Hauseigentümer werden, was in Berlin, wovon vielleicht auch du die Schnauze voll hast, für dich ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Hinzu kommt, sozusagen als Bonus, dass hier niemand auf Abstand achten muss. Ganz einfach, weil nur wir beide, also nur mein Bürgermeister und ich, hier leben. Meinen Bürgermeister habe ich auch noch nie mit Maske gesehen, ich habe sie mir Anfangs nur aus Angst vor dem Berliner Maskenmob aufgesetzt, den es hier aber nicht gibt. Es gibt hier auch keine Polizei und auch kein Ordnungsamt. Mein Bürgermeister ist gleichzeitig Dorf-Sherriff und ich sein Deputy. Last but not least: Du brauchst auch keine Impfung, und so wie es aussieht, wird das auch so bleiben. Vorausgesetzt es kommen nicht zu viele, dass unser Dorf wie Berlin wird. Das wollen wir auf keinen Fall!

Foto&Text TaxiBerlin

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